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16.11.2024
In aller Stille
Es ist November. Der Herbst zeigt sich mit ganzer Kraft: die Blätter werden bunt, der Wind und der Regen mehr. Und: das Zwitschern der Vögel ist wiederum immer seltener zu hören. Eigentlich beginnt eine Zeit der Stille. Aber da draußen, vor den Mauern, ist die Welt immer laut, immer aktiv, immer schnell – egal ob Sommer oder Herbst. Da brausen die LKWs auf den Autobahnen, damit Post und Waren ihren Weg finden; da rasen wir von Termin zu Termin; und zwischendurch sind wir auch immer erreichbar. Ganz anders nehme ich es oft hier drinnen, bei uns in der Justizvollzugsanstalt, wahr. Man hört zwar immer noch ein wenig das Brausen der Autos auf der nahen Autobahn. Ansonsten ist es bei uns aber meistens recht ruhig. Zumindest tagsüber, wenn ich hier arbeite, nehme ich das so wahr. Doch die Stille ist ein ambivalenter, ein zweischneidiger Genosse. Einige Inhaftierte suchen die Stille; ziehen sich zurück auf ihren Haftraum. Möglichst wenig Kontakt, heißt die Devise. Es ist so eine Art freiwilliger Rückzug in aller Unfreiwilligkeit. Die Stille ist für viele aber auch ein Begleiter, den sie gar nicht so gern an ihrer Seite haben. In der Stille der Zelle beginnen die Gedanken zu kreisen. In der Stille, da kommen die Bilder wieder hoch, die man schon lange für verdrängt gehalten hatte. In der Stille, da schlägt die Realität manchmal erbarmungslos zu. Und darin unterscheiden sich „die da drinnen“ und „die da draußen“ eben dann doch nicht: Es gibt Zeiten, da suchen wir die Stille und genießen es, den Trubel des Alltags von uns abzuschütteln. Und es gibt Momente, wo uns die Ruhe genau das Gegenteil beschert: Unruhe. Die Monate November und Dezember sprechen genau diese Sprache: zwischen Totengedenken in aller Stille und jubilierender Vorfreude auf die Geburt Jesu am Heiligen Abend bewegen wir uns auch innerlich zwischen den Extremen des Lebens. Ich wünsche Ihnen, dass Sie genau das für sich finden, was Ihnen gut tut: auch im November manchmal ausgelassen fröhlich sein und im Dezember Momente der Stille genießen. Ganz so, wie sie es gerade brauchen.
Helfried Maas, Gefängnisseelsorger in der JVA Arnstadt