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17.06.2023
Und hätten wir die Liebe nicht…
Sie gehen noch einmal raus. Nach dem Abendessen. Eine Feldrunde. Am Waldrand entlang und dann zurück nach Hause. Es hatte geregnet. Die Felder sind von der Nässe ummantelt. An manchen Stellen sieht es so aus, als würde die Erde atmen. Als würde sie die Geschichten des Tages erzählen wollen. Sie saugen die Süße des Rapses ein, als wäre es das erste Mal. Und zugleich raubt ihnen die Schwere fast den Atmen.
Sie halten sich an den Händen. So wie immer. Er spürt ihre Haut. Rauh. Abgearbeitet. Die schmalen Finger. Er hält sie ganz fest. Will sie schützen. Weiß, dass er es nicht kann.
In diesen Momenten ist es anders. In diesen 30 Minuten am Abend ist er ganz für sie da. Er würde alles tun, damit ihr niemand Schaden zufügen kann. Er liebt sie seit 30 Jahren. Hat nie jemand anderen geliebt. Er weiß, dass es kitschig klingt. An manchen Tagen fürchtet er sich vor dem Moment, an dem es diese Art Spaziergänge nicht mehr geben wird. Er ahnt, die Leere, die dann in sein Leben einzieht. Eine Leere, vor der er sich mehr fürchtet, als vor seinem eigenen Tod.
Von der Seite schaut er sie an. Ihr blondes Haar ist von grauen Fäden durchzogen. Er mag ihr Älterwerden. Sie gehen den Weg entlang. Sie erzählt die ganze Zeit. Von den Kindern und dem Enkel, der gerade seinen zweiten Geburtstag gefeiert hat. Langsam geht die Sonne unter. Gearbeitet haben sie viel. Ein ganzes Leben lang. Viele Jahren haben sie funktioniert. Aneinander vorbeigelebt. Alles unter einen Hut gebracht: Kinder, Arbeit, Haus. Jetzt – im Ruhestand haben sie einander wieder. Wiedergefunden. Ein zweiter Frühling. Er lässt ihre Hand los. Bleibt stehen. Nimmt ihr Gesicht zwischen seine Hände. Sie ist erstaunt. Blickt ihn an. Lächelt. Er sagt: „Und hätten wir die Liebe nicht.“
Viktoria Bärwinkel
Pfarrerin in & um Sondershausen